top of page

Stille Nacht

Aktualisiert: 23. Aug. 2021

Eigentlich war von Anfang an geplant, dass ich an Heilig Abend nach Hause darf. Nun hört meine Redonflasche nicht auf, sich mit Wundflüssigkeit zu füllen. Das wird wohl noch spannend, ob ich Weihnachten wirklich zu Hause feiern kann.


Bei der Operation wurden mir gleich 3 Redonflaschen gelegt. Dabei wird die Haut durchstochen und jeweils ein an der Spitze perforierter Schlauch in das Wundgebiet gebracht. Daran hängt eine Plastikflasche. Diese arbeitet mit Unterdruck und saugt vorhandenes Wundsekret aus dem Behandlungsbereich ab. Jeden Tag wird notiert, wieviel Flüssigkeit meine Redonflaschen gefördert hat. Zwei davon, die unter die Achsel geführt haben, können bereits am dritten und vierten Tag entfernt werden. Die Krankenschwester fordert mich dabei auf: „Bitte tief einatmen." Und schon zieht sie den Schlauch aus meinem Körper. Es gibt schönere Gefühle. Aber auch Schlimmeres. Sterile Pflaster verschließen die verbliebenen Löcher in meiner Haut. Eigentlich hätte ich auch schöne Bilder zu diesen Wunden, aber diese erspare ich euch 😉.


Die dritte Redonflasche führt direkt in die große Wunde der abgenommenen Brust. Und sie produziert immer noch fleißig. Einmal musste sie sogar schon ausgetauscht werden, da sie ziemlich voll war.


Es ist nun bereits Samstag. Die verbliebene Redonflasche hat wieder mehr als 80 ml geliefert. Erst wenn sie unter 30 ml pro Tag anzeigt, darf sie gezogen werden und ich somit nach Hause gehen.

Hui, das wird knapp, übermorgen ist ja schon Heilig Abend.


Krankenbesuche am Wochenende


Ich bin noch gelassen. Am Samstagnachmittag überrascht mich ein guter Freund unerwartet mit einem hübschen Biedermeierstrauß und einer warmen Umarmung. Ich freue mich riesig über meinen treuen Wegbegleiter, der auch beständig bei mir daheim vorbeischaut.


Eigentlich sage ich ja zu jedem, der mich im Krankenhaus besuchen möchte, dass dies nicht nötig sei. Ich bin da total pragmatisch und möchte niemandem zumuten, sich so kurz vor Weihnachten auf den weiten Weg nach Ingolstadt machen zu müssen. Man könne sich ja auch später viel leichter wieder zu Hause treffen, sage ich meinen Freunden. Vor allem sei dann auch die Atmosphäre wohl wieder angenehmer.


Bei einem weiteren Freund mache ich aber gerne noch eine Ausnahme. Er ist nämlich mittlerweile von Beilngries nach Ingolstadt gezogen. So ist es nun in diesem Fall fast einfacher sich hier im Klinikum zu treffen. Und so trinken wir am Sonntagnachmittag gemeinsam in der Cafeteria einen Cappuccino und tauschen uns lebhaft über unsere gemeinsamen Aktionen bei den Stadtratswahlen und der Flüchtlingsarbeit aus. Mein nerviges Redonfläschchen habe ich dabei in einer Stofftasche versteckt.


Selbst meiner Familie will ich die Fahrt hierher nicht zumuten. Schließlich sind ja auch alle mit dem Christbaumverkauf auf unserer Kultur gut beschäftigt. Und ich komme ja eh schon bald nach Hause. Vorausgesetzt natürlich, dass dieses Fläschchen langsam aufhört zu produzieren.


Eine neue Idee: Mit Redonflasche nach Hause


Es ist nun bereits Sonntagabend - morgen ist ist also Weihnachten. Ich sehe, dass schon wieder über 60 ml nachgeflossen sind. Oje! Schon wieder zu viel. Und es kommt ja noch die ganze Nacht dazu. So ein Mist, das wird ja nun echt knapp. Die Nachtschwester ermutigt mich dazu, morgen doch zu fragen, ob ich mit der Flasche nach Hause gehen kann. Das wurde früher immer wieder mal gemacht.


Die Krankenschwester misst am Montagmorgen, 24. Dezember, 80 ml. Danach wechselt sie die mittlerweile wider sehr schwere - weil gefüllte - Redonflasche aus. „Das wird wohl leider nichts mit dem nach Hause gehen heute", meint sie mit einem leichten Bedauern in der Stimme. Bestimmend halte ich dagegen: „Dann gehe ich eben mit der Redonflasche. Die Nachtschwester hat gemeint, das kann man durchaus machen." Die „Morgenschwester" hält allerdings gar nichts von dieser Idee. Das sei viel zu gefährlich wegen der vielen Keime zu Hause. Aber sie könne das eh nicht entscheiden. Dazu müsse ich die Stationsärztin fragen.


Gegen Mittag schreibt dann meine Familie per WhatsApp, wie es denn nun ausschaue. Ich schreibe noch ganz frech zurück: „Ich komme!" Allerdings sei heute noch keine Visite da gewesen. Ich konnte also noch nicht nachfragen, ob ich denn nun mit der Redonflasche heimfahren könne.


Schließlich kommt gegen 14 Uhr endlich die Stationsärztin vorbei. Ich schildere ihr mein Anliegen. Sie meint, sie sei ganz neu auf der Station und müsse dazu den Oberarzt zu Rate ziehen. Aber jetzt muss sie gleich wieder in den Kreissaal. Da warte eine Mama auf ihre Entbindung. Am Tag von Heilig Abend sind halt kaum Ärzte auf der Station. Das kann ich verstehen.


Mittlerweile ist es 16 Uhr. Ich habe meinen Frust zwischenzeitlich schon mal an einer Krankenschwester ausgelassen. Ich verstehe nicht, warum um so eine blöde Flasche so ein Hype gemacht wird. Was soll denn schon passieren, wenn ich die mit nach Hause nehme? Ich meckere: „Wenn ich jetzt im Endstadium meiner Krebsbehandlung wäre, würde das sicher ohne Probleme erlaubt." So kenne ich mich gar nicht. Aber mir ist es ziemlich wichtig, dass ich noch einmal mit meiner - um eine Schwiegertochter bereicherte - Großfamilie Heilig Abend feiere. Meine Eltern sind ja immerhin schon 88 Jahre: Wer weiß, wie lange wir noch zusammen feiern können.


Ein Teil meiner Family hat sich mittlerweile auf den Weg gemacht. Sie wollen mich jetzt einfach besuchen und dann entweder mit oder ohne mich wieder nach Hause zurückkehren. Das finde ich eine gute Idee, denn die lange Warterei geht mir jetzt doch langsam auf den Keks. So freue ich mich, dass Georg, Anna, Andreas und auch meine Mutter bei mir sind und für mich schon ein bisschen Weihnachten ins Zimmer zaubern.



Man beachte den Christbaum mit weihnachtlicher Deko in meinem Bett!

Tja und dann kommt tatsächlich gegen 19 Uhr die Stationsärztin vorbei und teilt mir mit: Der Oberarzt finde es doch besser, wenn ich im Krankenhaus bliebe. Ok, ich akzeptiere diese Entscheidung klaglos. Immerhin bin ich jetzt versöhnt, dass ich mittlerweile zumindest mit einem Teil meiner Familie Heilig Abend feiern konnte. Jetzt ist es eh schon egal. Dann bleibe ich halt hier. Ich will auch nicht, dass jemand wegen mir Schwierigkeiten bekommt. So fahren meine Lieben schließlich ohne mich nach Hause.


Eine einzigartige "Stille Nacht"


Und so wird diese Nacht nun tatsächlich fast eine stille Nacht. Ok, so still wird sie dann auch wieder nicht. Denn immer wieder vibriert mein Handy und schickt eine besinnliche oder gar witzige Weihnachtsbotschaft per WhatsApp. Auch ich habe nun ja alle Zeit der Welt, um meinen vielen Freunden und Bekannten Weihnachtsgrüße zu versenden. Ich wähle dieses Jahr als Anhang das humorvolle Video von Heinrich Del Core: Weihnachten Nichts schenken Da geht es interessanterweise sogar um einen Weihnachtsgutschein zur einseitigen Brustvergrößerung. Ich kann mir dabei natürlich nicht verkneifen dazu zu bemerken, dass so ein Gutschein für mich fürs nächste Jahr vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre.


Klar, dieses Jahr mit meiner Krankheit sind es besonders viele Menschen, die an mich denken und mir alles Gute und vor allem natürlich Gesundheit wünschen. Für mich wird das schon fast ein bisschen Arbeit allen zu antworten. Einige wollen natürlich auch wissen, wie es mir gerade geht. Eine allgemeine Mail passt da allerdings nicht, da ich meine Bekannten individuell über meinen momentanen Krankenstand unterrichten möchte. Ja, soziale Medien können schon auch ganz schön fordern.


Da kommt ein Bild von meiner Familie von ihrem Festessen mit der Unterschrift: „Liveberichterstattung beginnt". Gut gemeint. Ich schreibe zurück, dass ich gar nicht auf dem Laufenden bleiben will. Sonst bekäme ich ja nur Hunger 😒 und wünsche noch einen guten Appetit.


Und je später es wird, umso ruhiger wird es dann tatsächlich. Ich genieße nun langsam wirklich diesen außergewöhnlichen Weihnachtsabend. Ich bin froh, dieses Jahr um den Kult vom Auspacken vieler Geschenke ein bisschen herum zu kommen.


Ein paar meiner Geschenke stelle ich allerdings zu einem kleinen Arrangement zusammen.

Auch wenig kann sehr viel sein. Mir kommen die Erzählungen von den Soldaten von Heilig Abend in Stalingrad in den Sinn. Bei denen war wenig auch sehr viel. Es berührte auf jeden Fall Emotionen. Heilig Abend ist eben etwas Besonderes.



Ich bin eigentlich eine Verfechterin von "weniger ist mehr". Ich merke, wie sehr mich materielle Dinge eigentlich oft belasten. Hier in diesem Krankenzimmer ist alles sehr schlicht. Ich mag das. Ich brauche hier nicht viel, muss mich auch dadurch um nichts kümmern. Dabei fallen mir die Mönche ein, die ebenfalls oft nur ein sehr einfaches Zimmer haben. Dieses oftmals sehr bescheidene Zimmer nennt man Cella oder zu deutsch Zelle. Es hat schon etwas befreiendes, wenn man nicht so viel Besitz hat. Je mehr man hat, um so mehr muss man darauf aufpassen. Vielleicht tut das manchen Menschen auch gut. Ich merke dagegen immer mehr, dass mich ein Zuviel eher belastet. Reduzierung ist für mich ein wichtiger Impuls geworden während meiner Krankheit. Vielleicht auch, weil ich mich kräftemäßig gar nicht mehr um so viel kümmern kann? Ich will ja schon lange mein Haus entrümpeln. Ich habe es immer noch nicht geschafft. Auch deswegen, weil es mir echt schwer fällt, etwas wegzuwerfen. Ein weiterer Grund, dass ich eher froh bin, wenn nichts Neues dazukommt. Zumindest nicht, wenn ich es nicht unbedingt brauchen kann.


Fast die ganze Welt in einem Gerät


Ich habe im Krankenhaus zu meinem Handy zusätzlich meinen Laptop dabei. Darin habe ich alles, was ich brauche. Dokumente und vor allem Fotos, die ich hier bearbeiten kann. Das Internet verschafft mir dabei Zugang beinahe zur ganzen Welt. Bietet mir mehr Wissen und Inhalte als Millionen von Büchern und Gehirnen fassen können. Ja, und das kann auch zum Problem werden. Sich hier zur Selbstdisziplin zu ermahnen, ist manchmal eine echte Herausforderung. Vor allem, wenn man ein so neugieriger Mensch ist wie ich. Man kann hier im Internet vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Vor allem Musikvideos auf YouTube lassen meine Nächte schon mal auch sehr lange werden. Gut, ich belaste zumindest materiell keine Bücherregale oder Ablagen damit. Aber das Ganze kostet auf jeden Fall Zeit. Zeit, die kostbar und manchmal auch begrenzt ist.


So klappe ich jetzt meinen Laptop zu.

Kuschle mich an mein Herzkissen. Fahre mein Luxus-Krankenhausbett in die richtige Schlafstellung und gehe hinüber in das Reich der Träume und guten Gedanken.


Für mich war dieser Heilig Abend nun doch ok, so wie er war. So still wie nie zuvor.

Ich werde wohl noch lange an diesen besonderen Weihnachtsabend denken.

Ich hoffe, noch sehr viele Jahre lang!



208 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

5 Jahre krebsfrei

Mein Jahr 2021

bottom of page