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Chemolocken

Aktualisiert: 2. Jan. 2022

An meinem 55. Geburtstag bin ich nach zehn Monaten zum ersten Mal wieder beim Friseur. Locke für Locke fällt zu Boden. Es sind die sogenannten Chemolocken. Ich will sie endlich los haben. Wieder zurückkehren zu einem selbst gewählten Aussehen. Zurück in die Normalität.


Zehn Monate zuvor, 1. Juni 2018: Ich hatte einen Termin im Salon Stephan bei meiner Friseurin Nicole, die mich schon seit Jahren mit schicken Frisuren versorgt. Genau eine Woche vorher hatte ich einen Hubbel an meiner Brust entdeckt. Ich war daraufhin zum Arzt gegangen und eine Stanzbiopsie wurde gemacht. Ich wartete noch auf das Ergebnis. Ich war mir damals allerdings schon ziemlich sicher, dass die Wucherung bösartig war. So sagte ich damals zu meiner Friseurin: „Wenn ich jetzt längere Zeit nicht komme, dann habe ich Krebs." Ja, und dann brauchte ich tatsächlich für 10 Monate keinen Friseur mehr.


Doch jetzt genau zu meinem Geburtstag betrete ich gut gelaunt - und erwartungsfroh auf eine neue Frisur - wieder meinen Lieblingssalon. Nicole begrüßt mich freudestrahlend. Mit großer Emphatie hat sie mich bei meinem letzten Besuch während des Schneidens einfühlsam begleitet. Und nun wiederum feiert sie heute mit mir die Zeremonie des Chemolocken-Abschneidens und dadurch vielleicht auch das Abschneiden dieser Krankheit.


„Was machen wir denn Schönes?", fragt sie mich strahlend. Ich sage zu ihr klar: „Auf jeden Fall kurz. Ich will die Locken komplett weghaben." „Ok! Ich glaube, da habe ich eine passende Idee. Ich zeige sie dir in einer Zeitschrift." Zum ersten mal duzt sie mich. Ich freue mich darüber. Der Austausch über die Krankheit hat Distanz aufgehoben. Schon ist sie wieder da und zeigt mir einen flotten Kurzhaarschnitt. „Ja, passt! Mach einfach. Ich vertraue dir komplett."


Und schon geht es schnipp-schnapp los. Die grauen Locken fallen eine nach der anderen auf den Boden. Ich fand sie sowas von hässlich. Allerdings wollte ich sie auch nicht sofort weg haben. Immerhin waren sie auch etwas Besonderes. Natürliche Locken. Diese werde ich vermutlich nie wieder haben.



Meine Chemolocken ...


Eine Freundin, die auf Kur war, meinte einmal zu mir: „Die Frauen mit Brustkrebs dort, die eine Chemo hinter sich haben, erkennt man sofort." Sie haben nämlich alle die gleiche Frisur: Einheitlich graue, fahle Locken, alle gleich lang, ohne Schnitt. Nicht unbedingt schön. Aber nach der kahlköpfigen Zeit einfach wieder Haare. Vor allem das Kraulen darin macht Spaß, denn sie sind einfach super weich. An Anfang waren sie bei mir sogar wie der Flaum eines frisch geschlüpften Kückens.


Und während Nicole konzentriert an meinen Haaren herumschnippelt, ziehen bei mir die Bilder der letzten Monate vorbei:


Meine ursprünglichen Haare vor der Chemo. Am 18.7.2018 rasiert mir meine Freundin Elisabeth meine Haare ab. In einem Friseursalon in Ingolstadt bekomme ich meine Perücke.



Ein heißer Sommer ohne Haare. Eine wunderschöne Zeit mit unserer Tochter Anna in Italien.



Manchmal habe ich auch ein Tuch auf. Vor allem beim Volleyballspielen mit meiner afghanischen Mannschaft. Ich will ja nicht alle Leute vor den Kopf stoßen oder den Gegner zu sehr irritieren 😉.



Ja, und dann beginnen meine Haare nach 3 Monaten auch bereits wieder zu wachsen.

Über meine Fotofreunde Björn, Daniel und Wolfgang komme ich beim Herbstwalk unseres Fotografen-Clubs Beilngries noch einmal zu wunderbaren Fotos mit ganz kurzen Haaren.


Und die Haare wachsen brav weiter. Hier festgehalten durch Eva beim Walk am 11.11.2018.

Und schließlich bekomme ich Locken ...




... die nun beständig durch die Hand von Nicole auf den Boden fallen.




Nun noch ein bisschen Farbe gegen das Grau. Und schon verwandle ich mich in eine Frau mit einer frechen Kurzhaarfrisur:



Klasse gemacht, Nicole. So gefalle ich mir wieder. Sogar richtig gut. Ich glaube, das Kurze, Freche passt zu mir. So hatte ich es eigentlich auch immer als Kind.


Mein Mann Georg findet diese Frisur allerdings zu "emanzig". Er liebt lange blonde Locken. Damit kann ich leider nicht mehr dienen.


Irgendwie sind die Haare nun vielleicht sogar etwas dicker geworden. Zumindest fühlt es sich so an. Es könnte aber auch sein, dass sie nur alle eben gerade gleich "jung" sind und noch keine ausgegangen sind. Ansonst wäre das natürlich ein großer Gewinn, denn meine Haare waren schon immer extrem dünn.


Ein weiteres Kapitel ist erledigt. Rein äußerlich kehre ich wieder ins Reich der Gesunden zurück. Formell habe ich allerdings noch ein Stück Weg zurückzulegen. Noch 3 Monate Tablettenchemo. Es ist erst Halbzeit in meinem dritten Blockabschnitt.


Die letzte Wegstrecke liegt vor mir. Ende ist in Sicht. Und mit neuem frischen Elan und schicker Frisur werde ich das sicher auch noch schaffen!


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