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Papier - ein geduldiger Zuhörer

Aktualisiert: 5. Jan.


Auf meiner Kur in Aulendorf wird eine Schreibwerkstatt angeboten. Ich bin mir unschlüssig, ob ich mich dazu melden soll. Neugierig, wie so etwas abläuft, bin ich ja schon. Daher bin ich letztendlich ganz froh, dass mein Arzt mir die Entscheidung abnimmt und dieses therapeutische Schreiben einfach in meinen Behandlungsplan aufnimmt. Dabei hatte ich beim Erstgespräch mein Liebäugeln damit vor ihm nicht einmal geäußert.


Die Kunsttherapeutin Evelyn Selegrad leitet die Gruppe. Außer mir sind nur zwei ältere Herren dabei. Andere, die diese Therapieeinheit "verordnet" bekamen, wollen daran nicht teilnehmen. Ich kann sie verstehen. Schreiben ist nicht für jeden. Ich bin gespannt, ob mir dieses Schreiben unter Anleitung zusagt.


Viel Anleitung dazu gibt es aber gar nicht. Frau Selegrad gibt nämlich - vielleicht auch auf Grund der bemessenen Zeit - nur ganz wenige Hintergrundinformationen und steigt sofort ins Schreiben ein. Sie teilt dazu Karten aus. Jeder soll sich die Karte aussuchen, die ihm spontan am meisten anspricht. Darüber solle man dann schreiben.


Ich wähle einen Baum, der auf dem Kärtchen in den 4 Jahreszeiten abgebildet ist. Ich überlege kurz und schon fließen meine Gedanken über die Tinte auf das Papier. Ich bin ganz erstaunt, wie leicht mir das von der Hand geht. Früher war Schreiben für mich eher eine Qual. Vielleicht hilft mir nun die Schreiberfahrung aus meinem Blog.



In unserem Treppenhaus hängen die Jahreszeitenbilder der berühmten Bavariabuche. Als Kind bin ich noch darin herumgeklettert. Mein Mann Georg hat diese Bilder gerade noch gemacht, bevor sie in sich zusammenbrach. Auch die Rahmen aus Buchenholz stammen von ihm selbst. Diese Bilder begleiten uns bereits seit vielen Jahren.


Therapeutisches Schreiben


Warum ist Schreiben auch irgendwie Therapie? Man muss dabei seine manchmal wirren Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes auf den Punkt bringen. Schreiben sortiert. Und Klarheit empfinde ich als heilsam.


Zum Teil beginne ich meine Artikel irgendwie und lass mich treiben. Oftmals war ich dann selbst überrascht von dem, was da am Ende auf dem Papier stand. In der Regel lasse ich das Ganze erst einmal so roh stehen und nachreifen. Mit Abstand in ein paar Tagen feile und verbessere ich noch an Details.


Schreiben kann auch einfach "ein von der Seele schreiben sein". Der geduldige Zuhörer Papier nimmt alles auf, was ich ihm vorsetze. So auch jetzt. Innerhalb von einer halben Stunde sind wir alle fertig mit unseren Texten.



Jeder hat seinen individuellen Schreibstil


Frau Selengrad fragt nun ganz behutsam, ob jemand seinen Text vorlesen möchte. Ich lasse den Männern den Vortritt. Spannend. Hier zeigt sich wieder einmal, wie individuell verschieden Menschen sind. Selbstbewusst beginnt einer der Männer seine Geschichte vorzulesen. Er war Pressesprecher bei der Kripo. Man merkt, er ist Schreiben gewohnt. Über den Inhalt bin ich zunächst überrascht. Seine Geschichte in Ich-Form handelt von einer Beziehungskriese. "Schreibt er aus seinem realen Leben?", überlege ich. Die Therapeutin fragt ganz einfühlsam, ob er über seinen Text sprechen möchte und ob es okay ist, dass sich die anderen Teilnehmer dazu äußern. So stellt sich heraus, dass diese Geschichte nicht seine persönliche Geschichte ist. Das hatte ich nicht vermutet. Mich fasziniert, wie gefühlvoll er schreiben kann ... als Mann, als ehemaliger Polizist und so forsch wie er hier in der Gruppe auftritt. So kann man sich täuschen.


Der andere ältere Herr, der lange überlegt hatte, ob er überhaupt schreiben möchte, wirkt auf mich total sympathisch. Er hat sein Leben lang jugendliche Fußballer trainiert. Er erzählt dies anfangs bei einer kurzen Vorstellungsrunde. Auch seine Geschichte handelt davon, wie er jungen Spielern durch seine väterliche Betreuung Kraft und Lebensenergie für den Alltag geben konnte. Man merkt, wie er für diese Arbeit bzw. für diese Jungs lebt. Ich kann das ganz gut nachvollziehen und fühle mich auch in meinem Tun als Volleyballtrainerin bestätigt.


Ja und jetzt darf ich meine Geschichte vortragen. Ich lese sehr gerne vor. Ich mag es, Worte in unterschiedlichen Stimmlagen zum Klingen zu bringen. Je nach Informationsdichte im entsprechenden Tempo. Genau so, dass auch ich während des Lesens noch die Inhalte in meinem Kopf parallel verarbeiten kann, so als würde ich diesen Text zum ersten Mal hören ...



Jahreszeiten sind wie Lebenszeiten


Ich betrachte ein Bild mit einem Baum. Er ist darauf in den vier Jahreszeiten abgebildet. Mir kommt dabei unsere Lebenszeit in den Sinn. Auch diese kann man in vier Abschnitte einteilen.


Mit dem Frühjahr erwacht die Natur. Hellgrüne, zarte Blätter sprießen aus den Knospen. Sie sind noch sehr verletzlich, müssen erst lernen mit den rauen Stürmen des Lebens zurecht zu kommen. Genauso ist unsere Kindheit. Schützenswert. Meist erlernen wir spielerisch, was wir für ein eigenständiges Leben brauchen.


Dann kommt die Zeit des Sommers. Im satten Grün speichern die Kraftwerke der Natur Nährstoffe ein. Die Sonne liefert dazu die Energie. Je stärker der Baum seine Blätter der Sonne zuwenden kann, umso kräftiger und robuster wird er. Früchte können heranwachsen. So ist es auch, wenn wir nach der Jugend erwachsen werden. Jetzt kommt die produktive Zeit. Unterschiedliche Lebensbedingungen lassen uns mehr oder weniger erfolgreich sein. Auch Kinder großziehen, kann in diesen Lebensabschnitt fallen.


Nimmt die Sonne und ihre Wärme langsam ab, kommt der goldene Herbst. Wunderschöne Farben wie im Indian Sommer leuchten noch einmal auf. Früchte sind reif zur Ernte. Die Blätter haben ihre grüne Farbe verloren wie auch unsere Haare ihre ursprüngliche Farbe verlieren und grau werden. In diese Phase schließen viele ihre berufliche Laufbahn ab. Die Ernte ist eingebracht.


Schließlich lässt der Baum seine Blätter los. So steht er nun da, kahl, dem kalten Winter ausgesetzt. Aber auch die vierte Jahreszeit bietet immer wieder seine angenehmen Seiten. Selbst hier kann es wunderschöne Tage geben. Vor allem wenn die Sonne im weißen Schnee glitzert. Alles ist ruhiger und langsamer geworden. Genauso werden wir im Alter besonnener und gelassener. Wir können unseren Lebensabend in Dankbarkeit auskosten.


In welcher Jahreszeit, in welchem Lebensabschnitt stehe ich gerade? Jede Phase hat ihren eigenen Reiz.

In der Natur kommt nach der frostigen Zeit wieder das Frühjahr. Die Erde erwacht zu neuem Leben. Viele Religionen vermitteln uns: Mit dem Tod ist es noch nicht aus. Das Leben geht im Dies- oder Jenseits weiter.

Keiner weiß genau, was nach dem Tod geschieht. Es hat etwas mit Glauben zu tun.


Aber klar ist, in der Natur folgt auf den Winter auf jeden Fall wieder ein Neubeginn. Leben an sich geht immer weiter. Ein beständiger Kreislauf.



Ingrid Dütsch



Die Vergleiche und Bilder, die ich verwendet habe, gefallen: Wir Menschen sind Teil der Natur und wir haben ähnliche Abläufe wie diese.


Ich spreche unheimlich gerne in Bildern. Sie machen für mich diese Welt und ihre Funktionalität begreifbarer. Ganz begreifen werden wir sie aber nie. Zuviel davon ist im Verborgenen. Und die Welt ändert sich ja auch beständig. So werden wohl in jeder Generation andere Geschichten geschrieben. Daher müssen Texte auch immer aus dem zeitlichen und persönlichen Hintergrund interpretiert werden.


Jeder Mensch schreibt seine eigene Geschichte. Jeden Tag neu. Mit Worten, aber auch im Tun! Auch du! Vielleicht tut es auch dir gut, einmal eine deiner Geschichten zu Papier zu bringen.



Ein paar Wochen später bekomme ich schließlich zwei auf der Reha geschriebenen Geschichten in einem Sammelband veröffentlicht zugeschickt. Eine schöne Erinnerung.




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