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Alltag im Krankenhaus: Wie Urlaub...

Aktualisiert: 23. Aug. 2021

Erst um 8 Uhr morgens wird mir mein Frühstück serviert. Ok, vorher kommt noch jemand zum Blutdruckmessen. Aber sonst ist es echt chillig hier. Gut, es ist ja ein paar Tage vor Weihnachten. Da passiert vielleicht nicht mehr so viel.


Ich genieße die Ruhe. Meine Zimmernachbarin Elke wurde noch am Freitagabend entlassen. Nun bin ich alleine im Zimmer. Auch nicht verkehrt. Obwohl Elke und ich super harmoniert haben.


In den letzten vier Tagen war allerdings ganz schön viel los:


Zwei Tage nach der OP besuchte mich bereits ein Physiotherapeut. Er fragte mich, ob ich mit ihm ein paar Übungen machen möchte. Er war dann überrascht, wie schnell ich aus dem Bett aussteigen konnte. Ich meinte darauf hin zu ihm, dass ich auch keinerlei Schmerzen hätte und eigentlich schon wieder fast alles machen könne. Der Therapeut leitete mich an, mich ganz vorsichtig mit meinen Fingern auf der Tischplatte möglichst weit nach vorne zu hangeln. Ich lächelte dabei über diese einfache Übung. Ich sollte das ein paar Mal machen. Er händigte mir dann noch ein Blatt mit weiteren Übungen aus. Diese wären aber erst am nächsten Tag fällig. Für heute würde das erst einmal reichen.


Die Therapeutin am nächsten Tag ist noch eine Schülerin. Sie fragte mich, ob sie mit mir unter Aufsicht ihrer Lehrerin ein paar Dinge ausprobieren könne. Das war dann für mich ganz interessant. Sie unterhielten sich mit ganz vielen lateinischen Fachausdrücken über meinen Rücken. Ich hätte eine Skorliose, eine Art s-förmige Wirbelsäule. Das weiß ich bereits seit ich 20 Jahre alt bin. Ich wollte damals selbst Krankengymnastin werden. An einer Schule, an der ich mich beworben hatte, wurde ich deswegen abgelehnt. Bei diesem Beruf wäre eine Beeinträchtigung der Wirbelsäule nicht gut. Ich hätte diese Diagnose schon fast vergessen. Denn Beschwerden hatte ich bisher noch nie im Rücken. Die Krankengymnastikschule in Ingolstadt eröffnete 1985. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich war bei den ersten in deren Auswahlverfahren. Als letzte Übungsaufgabe sollten wir ein Gespräch am Bett eines echten Patienten führen. Es war ein junger Mann mit einem Beinbruch. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl bei dieser gestellten Situation. Ich blockierte diese Übung total und es kam überhaupt kein natürliches Gespräch zustande. Auf Grund dessen wurde ich als einzige in dieser letzten Runde aussortiert. Immerhin war ich in der Gruppe des Professors persönlich, der sich diese Übung ausgedacht hatte. Mich hat das damals total frustriert. Als eigentlich recht gute Schülerin war ich es nicht gewohnt, dass ich abgelehnt wurde. Im Nachhinein war es vielleicht auch gut so. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Beruf überhaupt zu mir gepasst hätte. Aber nett, dass nun ausgerechnet eine Lehrerin der ersten Stunde sich mit mir über die Situation von damals unterhielt. Die Schule gibt es nun seit ungefähr 35 Jahren und nun bin ich Patientin hier.


Auch ein Psychoonkologe war da und hat sich nach meinem Befinden erkundigt. Ich sollte in einer Staffelung von 1 bis 10 ausdrücken, wie es mir gerade geht. 10 bedeutete dabei: Mir geht es sehr schlecht. Ich überlegte kurz und meinte dann: Mehr als Stufe 7 kann ich nicht bieten. Ich knabbere schon noch an meiner neuen, verschlechterten Diagnose. Vor allem ist mir noch nicht klar, was dadurch noch alles auf mich zukommt. Wie ich mein zukünftiges Leben z.B. auch hinsichtlich meiner Arbeit gestalten soll. Ich sagte dem Psychologen allerdings auch, dass ich prinzipiell schon damit umgehen kann. Ich müsse mich aber jetzt erst einmal von der OP erholen. Wirklich gebracht hat mir das Gespräch eher wenig. Ich fand es auch eigenartig, dass ein doch sehr persönliches Gespräch im Krankenzimmer stattfindet und die Zimmernachbarin dazu das Zimmer verlassen muss.

Ein weiterer Service des Krankenhauses war, dass eine Sozialarbeiterin des Klinikums vorbeischaute. Sie füllte für mich den Antrag für einen neuen Behinderten-ausweis aus. Meinen ersten Antrag hatte ich bereits vor einem halben Jahr über das Internet beantragt. Dieser zeichnet mich allerdings als 50% eingeschränkt aus und läuft nur bis März 2020. Auf Grund der befallenen Lymphe werde ich nun auf 80% hochgestuft. Ganz schön heftig, wenn man sich das bildlich vorstellt. Gültig ist dieser Ausweis nun bis Oktober 2024. Ich bin froh, dass die Sozialarbeiterin die neue Beantragung für mich übernimmt. Zudem gibt sie mir schon einmal ein Formular für eine Anschlussheilbehandlung mit. Diese soll man innerhalb von 3 Wochen nach Ende der letzten Behandlung antreten. In der Regel ist dies nach der Bestrahlung.


Zudem brachte noch jemand vom Sanitätshaus eine sogenannte Erstversorgung in Sachen BH vorbei. Unter den vielen Spitzen-BHs wählte ich eher die schlichtere Variante. Dazu gab es ein mit Watte gefülltes Polster für die fehlende Brust. Davon musste ich allerdings einiges Füllmaterial rausnehmen. Körbchengröße B braucht halt kaum Watte. 😊


Ja und dann besuchte uns noch Pater Pius aus unserem Benediktinerkloster in Plankstetten. Er ist Klinikseelsorger in Ingolstadt. Ich fand es sehr nett, dass er vorbeischaute und uns am Ende noch einen Segen spendete.


Und die Vögel werden singen


Aber nun ist es Wochenende und ich habe Zeit zum Lesen. Prinzipiell lese ich gerne. Allerdings brauche ich Ruhe dazu. Momentan hätte ich diese sogar zu Hause. Aber dort schlafe ich oft bereits nach kurzer Zeit ein. Die Chemo hat mich ganz schön müde und antriebslos gemacht.


Meine Freundin Anja hat mir für das Krankenhaus das Buch "Und die Vögel werden singen" von Aeham Ahmad geschenkt. Es handelt von einem palästinensischen Pianisten, der in einem syrischen Flüchtlingslager aufwuchs. Dort spielte er unter den Trümmern und wurde über YouTube weltweit bekannt. 2015 gelang ihm die Flucht nach Deutschland. Später konnte er seine Familie aus dem Grauen von Jarmuk am Stadtrand von Damaskus herausholen. Nur Musik hilft ihm mit dem Erlebten zurecht zu kommen. So steht es im Bericht von n-tv . Mittlerweile gibt er unzählige Konzerte in vielen Städten Deutschlands und berichtet dabei von seinen Erfahrungen als Geflüchteter.


Dieses Buch ist total nach meinem Geschmack. Eine Lebensgeschichte, die die Situation der Menschen in Syrien beschreibt. Sie hilft mir vieles zu verstehen, warum die Menschen ihr Land verlassen wollen/müssen. Spannend ist für mich auch mehr über die kulturellen Hintergründe zu erfahren - sicherlich gibt es da auch ein paar Parallelen zu meinen Volleyballern aus Afghanistan. Unter anderem sucht meist die Mutter die Frau für ihren Sohn aus. Dies habe ich auch bei einem "meiner Jungs" live miterlebt. In dem Buch trifft sich zwar das Paar heimlich vor der Hochzeit. Aber offiziell ist ein Treffen vor der Ehe nur "unter Aufsicht" erlaubt. Unvorstellbar für unsere heutige Kultur im Westen. Auch die Hochzeitsfeierlichkeiten finden dort in verschiedenen Räumen statt. Männer und Frauen sind dabei getrennt. Erst nach der Hochzeitsfeier darf der Bräutigam seine Frau bei der Frauengesellschaft abholen. Eine andere Welt. Allerdings war die Trennung von Frau und Mann auch bei uns über Jahrhunderte z.B. in Schulen üblich. In manchen Dorfkirchen ist das heute noch so.


Spannend war auch die Passage für mich, als die Frau im Kriegsgebiet ihr Baby mit Kaiserschnitt bekam. Ohne sterile Werkzeuge wurde ihr ohne groß wirksame Narkose der Bauch aufgeschnitten. Kein Vergleich zu dem, was ich hier im Klinikum erleben durfte. In dem Buch hatten alle Beteiligten wirklich extrem Angst, ob die werdende Mutter diese Operation überhaupt überleben könne. Antibiotika sind dort nur unter schwierigsten Bedingungen zu erhalten.


Wie privilegiert bin ich da, nur weil ich in einem anderen Land lebe. Dabei bin ich nicht besser als diese Frauen in ärmeren Ländern. Ich habe mich das schon immer gefragt. Vor allem, wenn ich - wie schon oft - von den afghanischen Geflüchteten gehört habe, dass wiederum ein Elternteil oder sogar Geschwister gestorben sind. Diese waren oft weit jünger als ich. In diesen Ländern stirbt man leider immer noch an hier schon längst heilbaren Krankheiten. Hat dort jemand Krebs wie ich, sind dort die Behandlungen und Medikamente meist nicht finanzierbar. Eine Absicherung wie bei uns durch die Krankenkasse gibt es für die meisten nicht. Es ist für unsere Geflüchteten bei uns sehr hart, diese Not ihrer Angehörigen aus der Ferne mit ansehen zu müssen, ohne groß etwas dagegen tun zu können. Und von unserer Seite ist es - meines Erachtens - unverantwortlich, gut integrierte und arbeitende Leute in diese Armut mit dieser schlechten Lebensprognose wieder zurück zu schicken. Es ist einfach Glück, dass ich hier im Westen geboren wurde. Was die Menschen an anderen Orten erleiden, ist oft noch um einiges Schlimmer als das, was ich hier in meinem medizinisch bestens versorgten Zimmer im Ingolstädter Klinikum erfahre. Vieles im Leben ist eben relativ. Und im Vergleich zu diesen geht es mir eigentlich gut.


So lese ich emotional berührt weiter in diesem ergreifenden Buch. Zu später Stunde schaue ich mir noch ein Video auf YouTube an. Das ZDF hat 2016 über das Leben von Aeham Ahmad einen Film gedreht: Der Klavierspieler aus Jarmuk.




So kann man sich die Situation in dem Flüchtlingslager in Damaskus viel besser vorstellen. Ich sehe mir das Video mit voller Lautstärke an - ich bin ja alleine im Zimmer und störe niemanden dabei.


Schließlich schlafe ich mit großer Dankbarkeit ein, dass die Medizin hier so fortgeschritten ist. Und sich so viele Menschen darum kümmern, dass ich wieder gesund werden kann. Es ist eben alles nicht selbstverständlich.






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